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Familienpraxis 

Dr. Simone Lang

Zur Zeit ist mein Hormonsystem generell auf Bereitschaft eingestellt. Mir schießen ab und an Bilder in den Kopf, Gedankenblitze, was alles passieren könnte. Mein kleines Kind ist gerade mal zehn Wochen alt, das heißt, es ist sinnvoll, dass ich als Mutter in „Habachtstellung“ bin, da mein Kind ungeschützt alleine nicht überlebensfähig wäre.

Urzeitlich war es wohl für uns Menschen überlebensnotwendig, eine drohende Gefahr schnell zu erkennen und zu reagieren. Dieses körpereigene Alarmsystem befindet sich im Stammhirn, das heißt, wir haben zunächst wenig Einfluss darauf. Auch heute noch schießt Adrenalin in unseren Körper, wenn wir eine Situation als gefährlich wahrnehmen. Erst durch das Bewusstwerden solcher Automatismen haben wir die Chance, Einfluss zu nehmen.

Was alles passieren kann – real oder „nur“ im Kopf

Letztens sehe ich unseren Nachbarn auf dem Fahrrad Richtung Bahnhof fahren – ich habe den Kleinen im Tragetuch und hole mit meiner Tochter Brötchen. Er ist sportlich schnell unterwegs und wird vermutlich im Bahnhof sein Rad nicht in den Aufzug schieben, sondern die Treppe hinunter tragen. Sofort habe ich den Film im Kopf, wie der die Treppe hinunter stürzt.

Meine hormonell gesteuerten Horrorszenarien machen auch vor meiner Tochter nicht halt, die ja mit ihren sechs Jahren natürlich bereits wesentlich selbständiger ist. Eigentlich muss ich mit ihretwegen sehr viel weniger Gedanken machen. Letztens wurde sie von unsere „Leih-Oma“ zum ersten Mal für einen Ausflug in den Zoo abgeholt. Prompt stellten sich zur Zeit der geplanten Rückkehr Bilder in meinem Kopf über einen möglichen Autounfall ein. Mit der Folge, dass ich recht erleichtert war, als sie sicher und heil wieder ankam. Jetzt kann man schlussfolgern, dass frau nicht soviel Angst haben sollte. Kann man. Vielleicht ist es aber auch gerade sinnvoll, in so einer Anfangszeit, wenn ein kleines Baby in die Familie kommt, dass alles mit etwas größerer Vorsicht und viel Bedacht getan oder auch mal gelassen wird. Das Familiensystem ist belastet durch diesen kleinen Neuling, der erstmal auf die eigenen Beine kommen muss.

Rutschige Treppe

Zum Thema „Treppe und Gefahr“: In unserem Haus gibt es zwei sehr glatte Holztreppen, für die wir noch keinen passenden Schutzbelag gefunden haben – als Schutz nicht für die Treppe, sondern Schutz für uns wegen der Ausrutsch-Gefahr. Und tatsächlich ist es meinem Mann passiert, dass er übermüdet von der teils durchwachten Nacht mit dem Kleinen auf dem Arm ausgerutscht ist. Es ist nicht so, dass wir uns nicht schon gekümmert und eine Antirutsch-Auflage in Plastik bestellt hätten. Und wieder zurück, da sie genauso glatt, wie die Treppe selbst war. Ist es doch auf jeden Fall sinnvoller, die Gefahr zu minimieren, statt ständig und immer wieder, bei jedem Treppengang daran zu denken „vorsichtig“ aufzutreten und sich festzuhalten. (Übrigens läuft mein Mann jetzt immer rückwärts die Treppe hinunter – was sehr lustig aussieht – er meint, er würde dabei weniger an der Ferse hängen bleiben.)

Häufig geschieht es, dass wir aus diesem Wissen heraus, was alles passieren kann, unsere Kinder ermahnen, „vorsichtig“ zu sein. Aber ist das wirklich sinnvoll? Erstens haben unsere Kinder diese Bilder nicht im Kopf und wissen also gar nicht, so oder wann oder an welcher Stelle sie dann – ja, was sollen sie dann machen? Was ist ein vorsichtiges Verhalten? Langsamer rennen?

Die Frage ist: Wann ist es aus Gründen des Schutzes sinnvoll, ein Kind zu warnen uns wie sollte die Warnung aussehen. Und wann kann ich mir meinem Impuls getrost schenken, mein Bild im Kopf von einer drohenden Katastrophe, einem Unfall in einer Warnung zu formulieren, bzw. wann ist es sogar kontraproduktiv?

Warnungen aus Bequemlichkeit

Ich ziehe die Grenze dort, wo es für das Kind gefährlich ist. In Abgrenzung zu den Dingen, die zwar unbequem für mich, aber nicht unbedingt (lebens-)bedrohlich für meine Kinder sind. Sitzen wir am Esstisch und meine Tochter kommt beim Greifen zum Brotkorb mit ihrem Arm recht nahe an ihrem Wasserglas vorbei, spare ich es mir, wie zu ermahnen, sie möchte bitte vorsichtig sein. Ich stelle das Glas selbst zu Seite. Auch bei gefährlicheren Situationen versuche ich zunächst, abzuschätzen, ab ich das Kind notfalls retten könnte, dann sage ich nichts, lasse ich sie ihre Erfahrung machen, bin aber dabei. Sie wird dabei zum einen mutig, zum anderen selbstverantwortlich.

Ausprobieren ist erlaubt

Ist sie mir für mein Gefühl mit drei, vier Jahren zu hoch in diese Kletternetze auf dem Spielplatz gestiegen, bin ich mitgeklettert und bin ein wenig unter und neben ihr geblieben. Sie wusste immer aus sich heraus, was sie sich zutrauen kann. Dieses Zutrauen in sich selbst habe ich ihr nicht genommen, indem ich ihr Bilder des Fallens in den Kopf gesetzt habe. Ich sage ihr, dass ich weiß, dass sie sich gut festhält (ich sage definitiv nichts mit dem Wort „herunterfallen“, denn das Gehirn versteht kein „nicht“, sondern stellt sich das einfach gleich vor).

Ich habe ihr proaktiv Gelegenheiten gelassen, wo es ging. Wenn sie sich ausprobieren wollte, zum Beispiel auf einer Mauer zu balancieren, habe ich das immer begrüßt. Allerdings sehen das nicht alle Nachbarn so. Wenn sie gerne auf einer Mauer eines fremden Grundstücks balancieren wollte und ich die Leute nicht kannte, haben wir durchaus auch geklingelt und gefragt – es gab auch eine Absage.

Immer wiederkehrend können mir Bilder Schrecken einjagen, die mit tiefem Wasser zusammenhängen: beim Spaziergang im Stadthafen achte ich tunlichst darauf, dass wir weit von der Kante weg sind… Ebenso war die erste Anschaffung zur ersten gemeinsamen Bootstour eine entsprechende Sicherheitsweste in der passenden Größe, da ich mich in der Vorstellung panisch nach dem Kind tauchen sah, das über Bord gegangen war.

Ein „Wasserfall“ in zweifacher Hinsicht

Passiert ist nie was, außer einmal. Eine Episode zum Thema „Wasser“ von mir und meiner dreijährigen Tochter: Wir machten einen Spaziergang zum See im Park nebenan und kamen an einen kleinen Wasserfall. Dieser ist rechts und links mit zwei Mauern begrenzt. Hinter der Mauer ist der See, der an dieser Stelle circa einen halben Meter tief ist, auf der Seite des Wasserfalls führt eine grasbewachsene Böschung abwärts. Ich ging auf die Mauer zum Wasserfall hin und meine Tochter hinter mir. Sie trat tatsächlich neben die Mauer. Ich hörte nur ein „platsch“ und sprang hinterher, hob sie heraus, ein Riesengeschrei natürlich. Vor Schreck, wehgetan hatte sie sich nicht, aber trotz dem warmen Sommertag war das Wasser natürlich kalt. Mein Mann und ich trösteten sie, waren bei ihr. Zogen ihr dann die Kleidung aus, hüllten sie in eine trockene Jacke und trugen sie nach Hause. Ein Riesenschrecken für alle.

Niemals würde ich sie alleine an den See gehen lassen bis sie nicht selbst sicher schwimmen kann. Ich versuche einen verantwortungsvollen Rahmen für sie zu setzen, der ihr ein Ausprobieren ihrer Fähigkeiten ermöglicht und der für mich entspannt, wenn auch nicht unbedingt bequem ist. Die Geistesblitze möglicher Gefahren versuche ich aktiv zu nutzen. Ich überlege mir, ob ich das jetzt verantworten kann und was ich im schlimmsten Falle machen müsste.

Sicherlich hätte ich ihr die Erfahrung des „Wasserfalls“ gerne erspart. Nur: es ist mir lieber, sie macht Erfahrungen von mir begleitet als irgendwo alleine. Erlebnisse werden sich ja unweigerlich einstellen und sie braucht sie, dass sie zu Erfahrungen werden, zu lernen, sich selbst und Gefahren einzuschätzen. Besser sie macht die Erfahrungen dann in von mir begleiteten Situationen, solange, bis ich weiß, dass sie Situationen selbst verantworten kann. Bin ich dabei kann ich sie (emotional) auffangen.

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