Etwa zweimal im Jahr mache ich einen Termin mit der wirklich tollen Lehrerin meiner Tochter, um aktuelle Entwicklungen zu besprechen. Das heißt, was mir auf dem Herzen liegt und was sie so mit meiner Tochter erlebt hat. Das schafft eine Vertrauensbasis und verhindert Missverständnisse.
Was ich mir von der Schule erhofft habe
Angefangen habe ich das in der ersten Klasse. In einem meiner ersten Gespräche machte ich deutlich, dass für mich das Wichtigste ist, dass mein Kind für sich entdeckt, was sie gerne mag. Also dass sie in ihren individuellen Vorlieben bestärkt und gefördert wird, anderes kann „so nebenher laufen“. Die Lehrerin und ich waren uns da einig, dass das wichtig ist.
Wie es bisher lief
Zu Beginn erzählte mein Kind jeden Tag, was sie so gemacht hat in den einzelnen Stunden und wie es ihr gefallen hat. Ich habe sie auch tagtäglich danach gefragt. Mit der Zeit kamen von ihr immer weniger Berichte, was morgens vorgefallen ist – irgendwann in der zweiten Klassen waren wir bei einem monotonen: „Wie wars?“ „Gut“ angekommen. Es gefiel ihr weiterhin in der Schule. Nur jeden Tag diese vielen wechselnden Fächer und Eindrücke – ich hatte das Gefühl, irgendwann stumpfte sie ab. Nahm und nimmt hin, was ihr da „geboten“ wird, engagiert sich aber selbst innerlich immer weniger, einfach weil es auch zu viel ist: Nach nach zwei Stunden Hauptunterricht Rechnen, eine Stunde Englisch, eine Stunde Handarbeit und zwei Stunden Sport – mich würde der Wechsel mittlerweile kirre machen. Damals in der Schule habe ich es auch einfach hingenommen.
Wieso ich damit nicht ganz glücklich bin…
Eigentlich könnte ich damit ja zufrieden sein. Meine Tochter ist in ihrer Klasse integriert, ich habe einen guten Kontakt zur Lehrerin, die meine Tochter gut „sieht“ und mein Kind geht gerne in die Schule. Es gibt zwei Dinge, die mir missfallen.
1.Mein Anspruch ans Lernen
Mein Kriterium dafür, dass mein Kind gute Impulse erhält (z.B. im Kindergarten) war immer, wie sie die morgens erlebten Eindrücke auch zuhause nochmal aufgreift und verarbeitet. Hatte sie Lieder im Kindergarten gesungen, dann wurden sie zuhause auch mal geträllert.
2.Mein Gefühl für mein Kind
Für einen guten Kontakt und gegenseitiges Verstehen brauche ich mindestens eine halbe Stunde am Tag mit meinem Kind, in der ich mich ganz auf sie einlasse. Kommt sie erst spät von der Schule, muss sie sich davon erstmal erholen. Da ich selbst dann eigene Tagesabläufe habe, wird die Zeit für gegenseitiges „Miteinander-Einschwingen“ verschwindend gering. So habe ich zunehmend das Gefühl, das Verständnis und den guten Kontakt, den wir seit unseren ersten Jahren miteinander haben, zu verlieren. Das macht mich oft unglaublich traurig.
Was „bringt“ die Schule? – Ein Zwischenstand
Letztens hatte ich wieder einen Termin – mein Kind ist nun in der vierten Klasse. Ich berichtete der Lehrerin, dass meine Tochter immer weniger von dem, was sie im Unterricht lernt, zuhause „weiterspielt“, aufgreift. Auch würde ich nicht sehen, dass sie ihre eigenen Stärken besonders verfolgen könnte. Die Lehrerin formuliert nun klar, dass die individuelle Förderung nicht das Konzept der Schule ist, sondern das gemeinsame, für alle (fast) gleiche Angebot von Inhalten. Individuelle Förderung – da müsste sie auf eine andere Schule.
Ist meine Tochter zuhause, verkriecht sie sich hinter Büchern. Immerhin das Lesen, das sie ja in der Schule gelernt hat, nimmt sie auf. Dennoch kann ich mich dem Eindruck nicht erwehren, dass sie das Lesen sowieso, auch ohne Schule gelernt hätte – einfach weil sie es brennend interessiert hat.
Sie hat Geigenstunden, spielt zuhause aber nie Geige, sondern klimpert dreimal am Tag auf dem Klavier herum. Warum? Weil in der Klasse ein Klavier steht. Dort spielen die Kinder in den Pausen herum und bringen sich gegenseitig „Für Elise“ bei. Deshalb „übt“ sie, damit sie in den Pausen spielen und anderen etwas „beibringen“ kann.
Manchmal bringt sie russische Verse und Worte mit nach Hause. Die Lehrerin mag sie und das Hörverstehen war schon immer eine Stärke von ihr. Unterhalten mit einem russischen Papa oder Frauen, die ich aus dem Upcyclingatelier Rostock kenne, kann und will sie sich aber auf keinen Fall.
Bei Englisch ist trotz vier Jahren wöchentlich zwei Stunden weder ein Klangverstehen noch Wortverstehen zu bemerken.
In Handarbeit wurde ihre Begeisterung am Anfang dadurch unterbrochen, dass sie anderen in der Klasse helfen sollte, weil sie so schnell war. Mittlerweile ist sehr langsam und hat wenig Lust auf das Fach.
Sie kann Lesen, Schreiben, Rechnen, alles so, wie ihr es in der Schule vermittelt wurde. Ein eigenes Schriftbild wurde nicht gefördert – Ziel war es, die Buchstaben GENAUSO wie im Schreibheft vorgeschrieben, nachzumalen.
Die Hausaufgaben sind total im Rahmen – sie kann sie selbständig machen und denkt auch selbst daran – es gibt sie nur Dienstags und sie müssen bis Freitag erledigt werden.
Alles in allem kein Grund zur Sorge. Aber…?
Meine eigene Erfahrung und der Stand der Lehr-Lernforschung
Vielen Kindern geht es nicht so gut in der Schule – wie die Berichte von Freilernern zeigen. Hier haben Eltern sich auf den Weg gemacht und ermöglichen ihren Kindern, wenn diese nicht in die Schule gehen wollen, einen eigenen Lernweg. Da es in Deutschland die Schulpflicht gibt, müssen damit Bußgelder, Gefängnisandrohung, der Entzug der Kinder oder der Wegzug aus Deutschland in Kauf genommen werden.
Bekannte Vertreter der Freilernenden sind zum Beispiel Arno Stern, dessen Sohn André ohne Schule aufwuchs und lernte. Oder der „Mitananda-H.O.F.“ In Österreich, in der eine Familie trotz vorgeschriebener jährlicher Prüfungen ihren Kindern selbstbestimmtes Lernen ermöglicht.
Und hier habe ich die schlüssige Antwort gefunden, wie individuelles Lernen „vom Kinde aus“ umgesetzt werden kann.
Was die Lehr-Lernforschung schon seit Jahrzehnten formuliert:
- Lernen ist ein Nebenprodukt von Spielen
Wenn ich spiele, bin ich ganz. Und werde automatisch das lernen, was ich brauche. Das zeigt sich am Laufenlernen, Muttersprache lernen etc. Die in der Lehrplänen geforderten Kompetenzen oder das Wissen sind also Nebenprodukte davon, dass ich tue, was mich interessiert, weshalb ich es immer öfter tue.
- Wenn mich etwas interessiert, tue ich es immer öfter
Wenn ich etwas gerne tue, wird es „geübt“. Spielerisches Üben ist allerdings nicht mit einem gezielten Üben zu vergleichen. Spielerisches Üben ist gleichzeitig variieren und bei nachlassendem Interesse wird es beendet. Um später wieder aufgenommen zu werden, wenn die Lust wieder da oder die Langeweile zu groß ist.
- Kinder wollen dazu gehören
Kinder tun nichts gegen jemanden, sondern aus eigenen Impulsen heraus. Sie passen sich an ihre Umgebung an. Wir als Erwachsene tun gut daran, ihre Impulse aufzunehmen und nur da einzuschränken, wo sie (lebens-)gefährlich sind oder unsere eigene Grenze überschreiten.
Freilernen – eine Alternative für uns?
Leider sind die Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes Lernen von zuhause aus mit vielen Lernorten, die es heute schon gibt, rechtlich mit großen Hürden verbunden. Dennoch gibt es Möglichkeiten und Wege (www.freilerner-kompass.de). Ich bin begeistert und inspiriert, welche tollen Menschen sich selbstbestimmt auf den Weg gemacht haben.
Meine Tochter möchte gerne in der Schule bleiben. Und wer bin ich, dass ihr das verbiete? (Auch wenn sie sich keine Altnative vorstellen kann). Was mir aktuell vorschwebt, ist eine Art „blended learning“, um wieder mehr in Kontakt mit meinem Kind zu kommen und ihre Selbstbestimmung zu fördern. Für mein kleines Kind kann ich mir das Freilernen vorstellen. Mittlerweile gibt es aber auch in Rostock schon eine Schulneugründung mit einem pädagogischen Konzept, das am individuellen Lernen des Kindes ansetzt und Lernwerkstätten anbietet (www.naturraumschule.de). Nicht ganz Freilernen, aber vielleicht in unserem Fall eine Möglichkeit.