Den kleinen Säugling schreien lassen heute im Gegensatz zu Nachkriegszeiten keine Option mehr. Schon nach einem Jahr braucht ein Kind bereits viel weniger Trost und hat viele Dinge gelernt, sich auch mal selbst zu trösten. Allerdings darf das Kind natürlich schreien – es ist ja zu Beginn das wichtiges Kommunikationsmittel mit der engsten Bezugsperson – meist der Mutter. Es geht also nicht immer darum, dem Kind zu helfen, sondern vor allem das Vertrauen aufzubauen: „Ich versuche immer für dich da zu sein, wenn du mich brauchst.“
Warum nicht schreien lassen?
Ein Baby erfährt durch die Nichtachtung seines Schreiens die eigene Hilflosigkeit (Derksen & Lohmann, 2009). Die Signale des Kindes werden nicht richtig verstanden, bzw. Erwachsene reagieren bewusst nicht darauf. Das Baby resigniert irgendwann oder schreit unabhängig vom Grund zu jeder Gelegenheit heftig.
Lernt ein Kind einzuschlafen, ohne getröstet zu werden, lernt es zu resignieren. Mit der Situation des Einschlafens werden gleichzeitig die negativen Gefühle von Resignation und Alleingelassen-Sein verknüpft. Das heißt, diese Emotionen sind die ersten Verknüpfungen im Gehirn, prägen sich ein und mit jeder Einschlafsituation werden diese Gefühle wieder angesprochen. Das ist nicht nur beim Einschlafen oder Schreien-lassen der Fall.
Langzeitfolgen und Gehirnforschung
Einschlafrituale werden immer zu einem Kampf, nicht alleine gelassen zu werden und vom Kind „verloren“. Eltern können heute in Zuwendung, Zeit und Beziehung investieren – in der berechtigten Erwartung, dass es sich jetzt und später durch ein ausgeglichenes, selbstbewusstes Kind auszahlen wird. Dies geschieht allerdings über den (leider langsameren) Weg der Neuronen im kindlichen Gehirn der freudvollen Erkundung statt über den schnelle Weg der Neuronenverknüpfungen über Angst.
Zur Verdeutlichung: Lernen durch Angst ist immer der schnellere, aber schlechtere Weg, da das gelernte Wissen immer mit dem Gefühl der Angst verknüpft wird (Le Doux, 2006). Lernt beispielsweise ein Kind Lateinvokabeln unter der Angst der schlechten Noten, werden mit den gelernten Vokabeln immer wieder auch die (dann unerklärlichen) Ängste wieder auftauchen.
In unserer Anwesenheit signalisieren wir dem Kind, dass es zu aller Zeit auf unsere Unterstützung zählen kann. Im Unterschied dazu lernt es, wenn wir es alleine lassen, schließlich erschöpft aufzugeben und zu akzeptieren, dass es nichts tun kann, um die Situation zu ändern.
Signale des Baby wahrnehmen
Wenn das Baby signalisiert, dass es Hilfe und Unterstützung braucht, ist es das Wichtigste, dass Sicherheit durch die eigene Anwesenheit gegeben wird. Wenn wir trotz des für uns nervtötenden Geschreis bei unserem Kind bleiben, erhält es so lange Unterstützung, bis es sich selbst regulieren kann.
Deshalb ist Grundlage aller Beruhigungsversuche ist das Da-Sein beim Kind, manchmal auch ohne etwas „zu tun“. Das dürfen wir selbst anstrengend und überfordernd finden! Es wird sich für das Kind und die Beziehung auszahlen: Über kurz oder lang – bei Schreikindern eben länger – wird es Dinge entdecken, mit denen es sich selbst beruhigen kann.
Wenn Eltern, und insbesondere Mütter, so ihren Kinder beistehen, auf dem längeren Gehirnweg zu erlernen, wie es sich selbst regulieren kann, dann muss auch der Mutter jede Hilfe gegeben werden. Es muss ihr möglich gemacht werden, sich zunächst selbst zu regulieren, ihre basalen Bedürfnisse nach Essen, Hygiene und Zuwendung von anderen zu befriedigen. Erst dann kann auch sie gesund bleiben und dem Kind helfen, zu lernen.
Was tun, wenn ich zu erschöpft bin, um gut da zu sein?
Bei eigener Erschöpfung durch permanentes, exzessives Schreien auf Babyseite und Schlafdefizit und Erschöpfung auf Elternseite ist eine kurze Auszeit im akuten Schreianfall angebracht: aus dem Zimmer gehen und Hilfe anrufen ist angebracht. Hilfe holen bedeutet, den Vater, eine bezahlte Babysitterin zu erreichen und zumindest einen Termin für später zu vereinbaren, wann Entlastung kommt. Den Kinderwagen schieben können Freundinnen, bei chronischen Erschöpfungszuständen lohnt es, die erfahrene Großmutter für einige Zeit einzuquartieren, wenn das Verhältnis zu ihr gut ist.